Ich lebe nicht im Armenhaus
Alle paar Monate taucht in den deutschen Medien mal wieder ein Bericht auf, der darlegt, wie schlecht es den Menschen in Südosteuropa geht und wie lebensunwürdig die Zustände in Bulgarien (und auch Rumänien) sind. Einiges davon ist wahr, vieles jedoch auch nicht.
Wahr ist, dass es in Bulgarien kein funktionierendes Sozialsystem gibt. Wahr ist auch, dass das Gesundheitssystem eher schlecht als recht ist und die staatliche Krankenkasse mit einem Budget von gerade mal 400 Euro pro versichertem Bürger zurechtkommen muss. Davon können gerade so Ärzte bezahlt werden und Krankenhäuser mitunterhalten werden. Wahr ist außerdem, dass Menschen, die in den 90er-Jahren in Rente gegangen sind, keine wirkliche Rente bekommen, da es im alten System keine Rentenkasse gab, in die einbezahlt werden konnte. Dem entsprechend müssen sie heute mit fast nichts auskommen (es gibt eine Armutsrente von 60 Euro, aber das reicht hinten und vorne nicht zum Überleben). “Neu-Rentner” bekommen 90% ihres letzten Gehaltes.
Wahr ist jedoch nicht, dass hier im Land alle oder die Mehrzahl der Menschen existenzielle Probleme haben oder in bitterer Armut leben. Natürlich liegen die Lebenshaltungskosten für eine dreiköpfige Familie bei 400 Euro höher als der Durchschnittslohn von 350 Euro. Das ist schon einmal ein grundsätzlicher Misstand, der vor allem Alleinerziehende und Alleinlebende betrifft. Dennoch leben 80% der Bulgaren doch in irgendeiner Form von Lebensgemeinschaft, teilen sich so Ausgaben und Einkommen. Das kann entweder die eigene Familie sein, aber auch das Zusammenleben mit den Eltern bis ins hohe Alter, nicht selten auch beides. Das Einkommen mit anderen Familienmitgliedern zu teilen ist kein Tabu und auch nichts, wofür sich der “Geringerverdienende” schämen muss. Denn es geht nicht um die Selbstverwirklichung oder den Status des Einzelnen, sondern um das Leben der Familie. Klar muss man die westliche Brille abnehmen, was einem Betrachter von außen nicht immer auf Anhieb gelingt. So haben viele Bulgaren nur ein kleines Apartment in einem alten Wohnblock und nicht immer für jedes Kind ein eigenes Zimmer – dafür ist diese Wohnung jedoch Eigentum. Auch hat nicht jedes arbeitende Familienmitglied ein Auto oder kann sich eine Vereinsmitgliedschaft leisten. Aber die meisten haben dennoch die Möglichkeit, einigermaßen normal zu leben. Und wenn man irgendwo zu Besuch kommt, findet man immer einen gedeckten Tisch. Zu guter Letzt weiß jeder, dass er nicht auf irgendwelche Leistungen vom Staat hoffen darf, denn der ist wirklich pleite.
Update 2023: Ich bin beim überarbeiten der Website erneut auf diesen Text aus dem Jahre 2013 gestossen. Mittlerweile hat sich in Bulgarien einiges geändert, und auch meine Ein- und Ansichten zu diesem Thema sind nicht mehr die selben. Dennoch lasse ich diesen Text als “zeitgenössisches Dokument” unverändert online, denn auch diese Gedanken waren zu einem Zeitpunkt Teil meiner Erfahrungen und daraus resultierenden Meinungen auf meinem Weg als Auswanderer in Bulgarien .